Hinweis

Ihre Browserversion wird leider nicht mehr unterstüzt. Dies kann dazu führen, dass Webseiten nicht mehr fehlerfrei dargestellt werden und stellt ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Wir empfehlen Ihnen, Ihren Browser zu aktualisieren oder einen der folgenden Browser zu verwenden:

Errichtung des Pastoralen Raums „Aschaffenburg – Ost“ am 20.2.2022 in St. Michael Hösbach

„Die uns anvertraute Welt gestalten“

Bei seiner Predigt zur Errichtung des Pastoralen Raums Aschaffenburg – Ost ermutige Domkapitular Clemens Bieber als Kirche nicht nur um sich selbst zu kreisen, sondern uns den Menschen und ihren Fragen zuzuwenden und aus dem Geist der frohen Botschaft die uns anvertraute Welt zu gestalten. „Wir leben in einer Zeit, in der sich zwar viele von den Kirchen abwenden, in der es aber zugleich eine große Sehnsucht nach Spiritualität gibt.“

Die Predigt im Wortlaut:

Kennen Sie die „normative Kraft des Faktischen“? Die „normative Kraft des Faktischen“ meint Vorgänge, Verhaltensweisen, Praktiken, die zur Gewohnheit werden. Sie prägen immer stärker das eigene Leben und unser Zusammenleben. Ohne sie auf ihre Sinnhaftigkeit zu hinterfragen, werden sie irgendwann zur Norm, zum Maßstab: „Es ist halt so!“

Bald eineinhalbtausend Jahre lang haben Christen mit ihrem Welt- und Menschenbild durch ihr Leben die Welt insbesondere in unseren Breiten in Dingen des Alltags wie auch in wichtigen Lebensfragen geprägt. Aus dem Geist der Frohen Botschaft heraus hat die Kirche wesentlich die soziale Kultur geprägt, Bildung und Kunst gefördert und eine pastorale Praxis entfaltet, durch die Menschen auf ihrem ganzen Lebensweg begleitet wurden. Die christliche Glaubens- und Lebensbotschaft gab dem Jahr seinen Rhythmus und prägte das Miteinander der Menschen. Von der Glaubensbotschaft aus wurde die Glaubenspraxis zur Gewohnheit, die den Menschen Orientierung und Halt gab. Daraus erwuchsen die Normen, also der Maßstab, für das Leben und das Zusammenleben der Menschen.

Deshalb hat mich in der vergangenen Woche ein Kommentar von Matthias Drobinski, einem Journalisten der Süddeutschen Zeitung, nachdenklich gemacht, der fragte: „Wo sind die Demonstrationen für den Frieden in Europa?“ Im Blick auf die derzeitigen Spannungen und Konflikte in der Welt stellte er fest, es sei dringend an der Zeit für eine neue europäische Friedensbewegung, bei der die Kirchen Europas eine wichtige Rolle spielen könnten.
Dabei erinnerte ich mich an den Besuch des damaligen Partei- und Staatschefs der UDSSR Leonid Breschnew im Jahre 1973, als hunderttausende junger Menschen in der Phase des kalten Krieges in Bonn für Frieden und Freiheit demonstrierten. Matthias Drobinski hat recht mit seiner Frage! Wo ist die Kirche heute, wenn es darum geht, Menschen mitzunehmen auf den Weg des Friedens, der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit?

Deshalb möchte ich exemplarisch drei Beispiele aus dem sozialen Bereich nennen, die ebenso die Frage aufwerfen: Was sind die heute prägenden Normen für das Leben und das Zusammenleben und wer prägt sie?

Wir beklagen den Mangel an Pflegekräften. Der Beruf wird immer fordernder, die gesellschaftliche Anerkennung wie auch die Vergütung waren bis vor einiger Zeit eher gering. Der Mangel an Pflegekräften führt dazu, dass die Betreuung alter, gebrechlicher, hilfsbedürftiger Menschen immer schwieriger wird. In dieser Phase, in der es deutliche, konkrete Zeichen für das Bemühen um eine menschenwürdige Pflege bräuchte, wird immer wieder z.B. von Missständen in kommerziellen Alten- und Pflegeheimen berichtet oder andererseits von Kursgewinnen bei großen, börsennotierten Sozialkonzernen.
Bei diesem Thema sehe ich zwei Probleme, die sich m.E. verheerend auf das Miteinander der Menschen auswirken: Die soziale Sorge, die Solidarität mit dem Mitmenschen wird mehr und mehr der Ökonomie geopfert und verkommt zum Geschäftsfeld. Andererseits wird darüber diskutiert, ob bestimmte medizinische Behandlungen ab einem gewissem Alter noch angebracht sind. All das steigert in betroffenen Menschen die Sorge, nur noch Last und lästig zu sein und kann zum Wunsch nach aktiver Sterbehilfe oder assistiertem Suizid führen.
Nur eine eindeutige Haltung der Solidarität und der praktizierten Sorge kann verhindern, dass es irgendwann normal ist, das Lebensende nicht Gott zu überlassen, sondern bewusst selbst oder durch Andere herbeizuführen!

Ein zweites Beispiel für die fundamentale Veränderung in der Bewertung des Lebens und im Umgang damit: Durch den Fortschritt in der Medizin ergeben sich auch bedenkliche Entwicklungen. Die Pränataldiagnostik hilft nicht nur, sich rechtzeitig auf die besondere Situation eines erwarteten Kindes einzustellen. Mehr und mehr werden Äußerungen laut wie z.B.: „Es muss kein Kind mehr mit Behinderung auf die Welt kommen!“ – Die deshalb in zunehmend mehr Fällen stattfindende Selektion vor der Geburt führt zu einem einseitigen Menschenbild, wo nur das Starke, Strahlende, Erfolgreiche zählt und das geschwächte, schwache Leben als nicht lebenswert erscheint.
Die Frage von Matthias Drobinski kann auch auf diese Situation übertragen werden: Wo ist die Bewegung für das Leben? Ich erinnere mich an eine Demonstration in Aschaffenburg Mitte der 70er Jahre. Es ging um den Paragrafen 218. Allein in Aschaffenburg waren damals auf dem Schlossplatz fünftausend Menschen zu einer abendlichen Kundgebung versammelt; ebenso ereignete sich das an vielen Orten im Land.

Schließlich noch ein letztes Beispiel: Zwei Frauen – es könnten gleichfalls zwei Männer sein – haben den Wunsch nach einem Kind. Mit Hilfe von Samenspende und Reagenzglas bzw. Leihmutterschaft wird es ermöglicht. Ein Kind wird damit immer weniger als ein Geschenk des Himmels erachtet, sondern als Produkt menschlicher Machbarkeit.
Wir gewöhnen uns daran und „die normative Kraft des Faktischen“ führt dazu, dass das Produzieren von menschlichem Leben eines Tages als normal empfunden wird und das Leben in der Verfügung des Menschen steht.

Bewusstsein wird auch durch starkes Engagement geprägt. Das sehen wir an der „Fridays for future“ – Bewegung. Das konsequente Eintreten der vielen jungen Menschen, die dafür sogar Strafen wegen Schulschwänzens in Kauf genommen haben, hat dazu geführt, dass die Themen Naturschutz und Bewahrung der Schöpfung sowie der behutsame Umgang damit bei der politischen Verantwortung in den Köpfen von vielen Menschen und zwar aller Generationen angekommen ist.

Wo aber sind die christlichen Kirchen gerade jetzt, wenn es darum geht, die Weichen für eine gute lebenswerte Zukunft, eine Zukunft mit Gott zu stellen? Wir leben in einer Zeit, in der sich zwar viele von den Kirchen abwenden, in der es aber zugleich eine große Sehnsucht nach Spiritualität gibt.
Jetzt will ich nur für unsere Kirche sprechen: Wir sind intensiv mit uns selbst beschäftigt! Mit großer Leidenschaft wird – zumeist im Kreis von beruflichen und ehrenamtlich Engagierten – neben Fragen der Sexualmoral vor allem über Zölibat, Ämter, Macht, aktive Beteiligung der Laien in allen wichtigen Entscheidungen, sowie Strukturen, Verfassungen – ob hierarchisch, synodal, demokratisch oder sakramental – debattiert. All diese Fragen sind wichtig und müssen geklärt werden, aber es darf sich nicht der Eindruck aufdrängen, dass die unmittelbar das Leben der Menschen berührenden wichtigen Fragen weniger Bedeutung haben. Die derzeit wesentlichen Fragen des Friedens, des Lebensschutzes, des sozialen und menschenwürdigen Miteinanders, der sozialen Gerechtigkeit in unseren Dörfern und Städten sind offensichtlich weniger oder nicht im Blick. Darum fragt Matthias Drobinski, wo die Kirchen sind.

Der Mainzer Bischof Kohlgraf, ein durchaus kritischer Geist, der viele wichtige Fragen zur Kirche mit vorantreibt sowie offene Diskussionen anstößt und befördert, hat dieser Tage erklärt, dass er die sogenannte „Frankfurter Erklärung“ nicht unterschreiben wird. Dafür wird er nun stark kritisiert. Seine Begründung: „Wenn jetzt vor Abschluss dieser Beratungen und geistlicher Prozesse Erklärungen das Ende und Ergebnis im Grunde vorwegnehmen, nehmen wir den Synodalen Weg nicht mehr wirklich ernst.“ Wenn bereits vor dem Abschluss des Reformprozesses Selbstverpflichtungen im Sinne der Diskussionsbeiträge abgegeben würden, müsse nicht weiter debattiert werden. Bischof Kohlgraf relativiert keines der beim synodalen Weg angesprochenen Themen, aber er will sie auch in Verbindung mit der Weltkirche klären und keine deutsche Lösung, die dann der Weltkirche erklärt, was sie zu tun habe.

Die sofort aufgekommene Kritik am Mainzer Bischof passt sehr gut zur Beobachtung in einem Kommentar in der WELT am vergangenen Freitag unter der Überschrift: „Moralische Diskursverschiebung“. Der Kommentator kritisiert, dass eine selbstgerechte Koalition aus Interessensgruppen und Medien den öffentlichen Diskurs bestimmt und anderen erklärt, wie sie zu leben haben. Und wer das infrage stellt, wird bekämpft.

Es scheint doch wie ein Wink des Himmels, dass für diesen Sonntag, an dem wir zusammen sind, um das Miteinander als Kirche im großen pastoralen Raum auf den Weg zu bringen, ausgerechnet die zuvor verkündete biblische Botschaft vorgesehen ist: In der neutestamentlichen Lesung mahnt Paulus die Christen in Korinth, sich nach dem Bild des Himmlischen gestalten, also prägen zu lassen. Und wie dieses Bild aussieht, überliefert uns der Evangelist Lukas: In den Worten des heute verkündeten Evangeliums ist die Haltung Jesu zusammenfassend auf den Punkt gebracht. Darin klingt ein Kontrastprogramm zu den heute gängigen Lebensweisen auf. Es ist ein geradezu konkretes Programm des geschwisterlichen Umgangs miteinander und mit der Welt.

Deshalb gilt es, die Vorkommnisse sexuellen Missbrauchs, die es leider auch unter dem Dach der Kirche gab, aufzuklären und aufzuarbeiten, um damit ein Vorbild zu sein für all die gesellschaftlichen Gruppen und staatlichen Institutionen, die noch längst nicht mit der Aufarbeitung begonnen haben. Neben diesem wichtigen Anliegen braucht einen klaren Blick für unseren eigentlichen Auftrag!

Wir sollten uns als Kirche – im großen wie im kleinen – weniger mit uns selbst, mit unseren Strukturen befassen, sondern uns vielmehr auf unsere Sendung konzentrieren, nämlich die Frohe Botschaft Jesu in Wort und Tat zu bezeugen und so die Welt, in der wir leben, in seinem Geist zu prägen und zu gestalten. „Die normative Kraft des Faktischen“ – d.h., die Menschen um uns herum sollten uns anzumerken, dass das Leben gewinnt, wenn der Geist Gottes wirkt. So können unsere pastoralen Räume zu Biotopen werden, in denen Leben geborgen ist, Menschen aufblühen können, Solidarität erfahren und in ihrem Herzen Hoffnung spüren.
Deshalb gilt es für die Menschen und ihre Anliegen erreichbar zu sein. Es gilt ansprechende, hoffnungsvolle und ermutigende Gottesdienste zu gestalten – ob bei unseren sonntäglichen Zusammenkünften oder zu den jeweiligen Lebensereignissen. Es braucht das Vertiefen in die Bibel – als Einzelne wie auch gemeinsam. Es braucht einladende Katechesen. Es braucht ebenso das konkrete und beherzte Engagement für die Menschen in ihren sozialen Bedarfen. Es braucht die Bereitschaft, soziale Dienste und Einrichtungen zu unterhalten.

Wenn wir als Kirche bei, mit und unter den Menschen erlebt werden, dann wird die Frage verblassen, wozu Kirche gut ist, dann werden sich die Menschen nicht weiter ab-, sondern unserer Gemeinschaft zuwenden. Von Herzen wünsche ich Euch in Hösbach, Wenighösbach, Winzenhohl und Schmerlenbach, in Goldbach und Unterafferbach, in Haibach, Grünmorsbach und Dörrmorsbach, in Johannesberg, Steinbach und Rückersbach sowie meiner Heimat Glattbach das Vertrauen in Gottes Geist und SEIN Weggeleit, sowie die Begeisterung für seine Frohe Botschaft, mit der wir als Kirche die uns anvertraute Welt mitgestalten.

Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de

Fragen

Wenn ich euch so zuhöre und betrachte mir
die Programme eurer Gemeinden, ihr Christen,
dann kommen mir Fragen, verzeiht:

Sind die Hungernden nicht mehr hungrig,
die Dürstenden nicht mehr durstig,
die Bedürftigen nicht mehr bedürftig?

Können die Blinden nun sehen,
die Stummen nun reden,
die Lahmen nun gehn?

Haben die Fragenden Antworten,
die Zweifelnden Gewissheit,
die Suchenden ihr Ziel gefunden?

Sind die Armen im Geist schon selig,
die Trauernden schon getröstet,
besitzen die Sanften schon das Land?

Wenn ich euch so zuhöre und betrachte mir
die Programme eurer Gemeinden, ihr Christen,
dann kommen mir Fragen, verzeiht!

Lothar Zenetti