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Predigt zum Tränenfest 2021 in der Wieskirche

„Der Gegeißelte Heiland steht dafür ein, dass Gott für uns Menschen einsteht“

Menschen brauchen mehr als Rituale zu einzelnen Lebensereignissen, sagte der Verantwortliche für die Caritas in der Diözese Würzburg, Domkapitular Clemens Bieber, bei seiner Predigt zum Tränenfest in der Wieskirche. Er zitierte den Theologen Günter Thomas: „Wir brauchen in diesen Zeiten Klagemauern … Wir brauchen diese Ritzen, in die Menschen so heimlich wie öffentlich ihren Verzweiflungsglauben stecken können.“ Domkapitular Bieber sagte: „An einen Ort wie die Wieskirche kommen auch Menschen, die keinen Bezug zur Kirchengemeinde in ihrer Nähe haben. Aber dass sie hierher kommen, macht deutlich, dass sie SEINE Nähe suchen ...“

Die Predigt im Wortlaut:

Am Pfingstsonntag übertrug das ZDF den Festgottesdienst aus Stift Altenburg in Österreich. Kaum hatte der Gottesdienst begonnen, wurde die Sendung wegen einer Störung unterbrochen. Zunächst kam der Hinweis: „Kurze Störung!“ Doch das Problem schien umfangreicher gewesen zu sein, als zunächst vermutet. Deshalb spielte der Sender nach wenigen Minuten einen Film über besondere, bedeutungsvolle Orte ein – allen voran die Wieskirche. Der Außensicht unter strahlendem Himmel auf die Wies folgte die Führung durch das wundervolle Gotteshaus, und schließlich hörte und sah man noch einen herrlichen Gesang des Tölzer Knabenchores.
Als die Planung durcheinandergeriet, weil unvorhergesehene – in diesem Fall – technische Probleme auftauchten, fiel der Blick auf die Wieskirche und den gegeißelten Heiland!

Ist das nicht ein passender Vergleich für die Beweggründe unzähliger Menschen, die das Jahr über in die Wies kommen, und zwar nicht aus touristischen oder kunsthistorischen Gründen, sondern weil sie mit ihren persönlichen Anliegen, in ihren Sorgen und Nöten die Nähe des Gegeißelten Heilands suchen?

Wir kennen die Geschichte der Darstellung des Gegeißelten Heilands, die uns hier im Hochaltar vor Augen steht. Die Figur wurde bei den damals üblichen Karfreitagsprozessionen in den Jahren 1732 bis 1734 mitgetragen. Die Karfreitagsprozessionen haben den Menschen anschaulich vor Augen gestellt, dass der menschgewordene Gott mit ihnen geht auf allen ihren Wegen, gerade auch auf den schweren, leidvollen Wegstrecken. Schließlich wurde die Figur auf dem Speicher der Familie Lory „wegen ihres geringen Ansehens“ abgestellt. Offensichtlich durfte auch schon damals das Leid nicht wirklich als schlimm erscheinen.
Nachdem am 14. Juni 1738 Tränen am Gegeißelten entdeckt wurden, war der Familie Lory von der kirchlichen Obrigkeit in Steingaden verboten worden, darüber zu reden.

Doch was suchen, was brauchen Menschen – damals wie heute? Am Samstag vor einer Woche lud mich eine Familie ein, mitzukommen zu einer großen geschnitzten Darstellung der Gottesmutter in einem Waldgebiet in Unterfranken, um für die Hilfe in schweren Monaten nach einer schlimmen Erkrankung zu danken. Dabei erzählte die jetzt wieder geheilte Mutter, dass sie viele Wochen in einer großen Fachklinik lag und in all den Wochen weder persönlich noch über den hausinternen Übertragungskanal so etwas wie seelsorgliche Begleitung erfahren hat.

Gewiss waren die vielen Monate der Pandemie schwierig. Keiner hatte eine Vorstellung, was auf uns zukommen könnte, keiner hatte Erfahrung, wie wir mit der Gefährdung umgehen und die damit verbundenen Zumutungen handhaben müssten. Behutsamer, vorsichtiger Umgang miteinander war geboten als Ausdruck der Sorge umeinander. Dennoch müssen sich die Kirche bzw. ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pastoral fragen, ob sie wirklich das Mögliche unternommen haben, damit die sorgenvollen und angsterfüllten Menschen spüren durften: Ich bin nicht allein! Gott steht mir zur Seite!

In einer Vielzahl von Pfarreien und seelsorglichen Situationen wurde sehr viel Kreativität entfaltet, um in der schwierigen Phase der Pandemie die Menschen im Vertrauen auf Gott zu bestärken. Aber wie viele Kirchen, wie viele kirchliche Einrichtungen blieben verschlossen – ungeachtet der Sehnsucht der Menschen nach Haltepunkten, nach Rückhalt, Ermutigung und Zuspruch!

Dieser Tage hat die evangelische Nordkirche angekündigt, dass sie „mit einer sogenannten Ritualagentur künftig mehr Menschen dafür gewinnen möchte, sich bei wichtigen Lebensstationen kirchlich begleiten zu lassen“. Anliegen sei, „unkompliziert erreichbar zu sein … und … den Zugang zu Ritualen wie Taufen, Trauungen oder Trauerfeiern zu erleichtern“.

Der Blick auf den Gegeißelten Heiland macht aber klar, dass wir keine kirchliche Dienstleistung zu einzelnen bestimmten Lebensereignissen anbieten oder gar verkaufen wollen. Der Gegeißelte Heiland steht dafür ein, dass Gott für uns Menschen einsteht – selbst in den schwierigsten Augenblicken unseres Lebens. Viele Menschen kommen nicht hierher, um einen Service zu erhalten, sondern um vor dem Gegeißelten Heiland ihr Herz auszuschütten, sich seiner Solidarität zu vergewissern, sowie Vertrauen und Kraft zu schöpfen für ihren weiteren Weg.

Der evangelische Theologe an der Bochumer Ruhr-Universität Günter Thomas äußerte sich dieser Tage über die Kirchen in der Pandemie und brachte seine Kritik auf den Punkt: „Wir brauchen in diesen Zeiten Klagemauern … Wir brauchen diese Ritzen, in die Menschen so heimlich wie öffentlich ihren Verzweiflungsglauben stecken können.“

Das scheint mir heute eine der wichtigen Aufgaben der Kirche zu sein, den Menschen zu helfen, ihre Klage, aber auch ihre Bitte wie ihren Dank vor Gott zu tragen. Es kommt entscheidend darauf an, dass wir das Leben der Menschen mit ihnen teilen. Jesus sitzt mit ihnen im Boot, wie das heutige Evangelium berichtet, und zwar auch dann, wenn es stürmisch und gefährlich wird. In meiner Verantwortung für die Caritas der Kirche in der Diözese Würzburg erlebe ich ganz oft, wie in den vielen sozialen Diensten und Angeboten das Leitwort „Nah am Nächsten“ sehr konkret wird – und zwar durch Menschen, die z.B. jetzt in der Pandemie keinen Lockdown praktizierten, sondern vielleicht sogar die eigene Gesundheit riskiert bzw. ihr Privatleben eingeschränkt haben, um für andere da zu sein.

Der Prager Theologe und Soziologe Tomáš Halík, der 1978 heimlich zum Priester geweiht wurde und in der Untergrundkirche in der damaligen Tschechoslowakei wirkte, hat vor einigen Wochen sein neues Buch veröffentlicht und ihm den bemerkenswerten Titel gegeben: „Die Zeit der leeren Kirchen“. Er sieht die Herausforderung für die Kirche, neue Wege zu suchen und zu finden. Halik ist überzeugt, dass es einen zunehmend größeren Hunger nach Gott, nach Spiritualität gibt, auch wenn auf die Schnelle betrachtet der Eindruck vorherrscht, dass es den Menschen ohne Gott ganz gut geht.

Im Blick auf die aktuelle Situation ermutigt er, als Kirche nach neuen Wegen zu suchen, um Zeugnis für den Auferstandenen zu geben: „Jetzt in der Krise werden viele Menschen mit sehr wichtigen Fragen konfrontiert: mit Leiden, mit Schmerz, mit Tod. Und das weckt metaphysische, spirituelle, geistliche Fragen. Und wir sollen nicht oberflächlich mit alten Phrasen darauf antworten. Sondern wir sollen diese Leute begleiten, uns einfühlen und zusammen mit ihnen die persönlichen Antworten suchen. Wenn die Kirche das anbieten kann, dann habe ich keine Angst, dass die Kirche leer bleibt.“

Halik nimmt heute eine „ganzheitliche Krise der Sicherheiten der gegenwärtigen Menschen“ wahr, sowohl der religiösen als auch der säkularen Sicherheiten. Deshalb kommt darauf es an, dass wir als Kirche „im Dialog stehen und versuchen, auf die wirklichen, echten Fragen der Menschen überzeugende Antworten zu geben. Es muss eine Sprache aus dem Herzen zu den Herzen der Menschen sein.“ Es geht also um weit mehr als um die äußerliche Gestaltung von Lebensereignissen. Es geht darum, dass die Menschen spüren, wie der Apostel Paulus den Christen in Korinth in seinem Zweiten Brief schreibt: „Die Liebe Christi drängt uns!“ Seine Nähe, seine Menschenfreundlichkeit, seine Liebe und seine Barmherzigkeit erfahrbar zu machen durch unser Handeln, ist entscheidend – und zwar nicht nur innerhalb der Kirche. „Die Seelsorger sind nicht nur für die Ihrigen, sondern für alle da, also nicht nur ‚Hirten ihrer Herde‘.“

An einen Ort wie die Wieskirche kommen auch Menschen, die keinen Bezug zur Kirchengemeinde in ihrer Nähe haben. Aber dass sie hierher kommen, macht deutlich, dass sie SEINE Nähe suchen, so wie die Jünger, die im Boot rufen: „Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?“
Die Frage Jesu, die ER daraufhin mitten im Sturm stellt: „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?“ ist kein Vorwurf, sondern sein Angebot und seine Aufforderung: „Vertraut auf mich, denn ich bin stärker als das, was euch Angst macht. Ich möchte euch helfen, dass ihr in eurer Angst nicht untergeht. Ich möchte euch helfen, dass das Schiff eures Lebens wieder in ruhigere Bahnen kommt.“

Gewiss, Unsicherheiten, Sorgen, Belastungen, Zumutungen, Ängste werden immer wieder und in ganz unterschiedlichen Situationen aufkommen, aber ich werde mit ihnen besser leben können. Sie werden mich nicht mehr völlig im Griff haben. Dort, wo ich Vertrauen schöpfe, wird die Angst zurückweichen. Dort, wo ich darauf baue, dass Gott zu mir hält, dort wird mir – so bin ich überzeugt – die Erfahrung geschenkt, dass ich – allen Ängsten zum Trotz – leben, vertrauen und hoffen kann.

Es kommt nicht auf die vielleicht passenden äußeren Rituale an, selbst wenn sie noch so schön gestaltet sind, sondern darauf, dass wir in all den Unsicherheiten, Ängsten und Nöten unserer Zeit spüren: Gott ist mit mir – auch im schwankenden Boot. ER hält mich und verhilft mir zum Leben.

Die Störung der Sendung am Pfingstsonntag führte überraschend zu dem eindrucksvollen Bericht über die Wieskirche. Ich bin mir sicher, für viele Menschen an den Bildschirmen war das eine unverhoffte ermutigende Botschaft: Unser Gott ist bei uns und steht zu uns – in jedem Augenblick unseres Lebens! Genau deshalb sind wir heute hier und danken für diese Zusage, an die uns der Heiland in der Wies erinnert.

Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de

Text zur Besinnung

Fragen

Wenn ich euch so zuhöre und betrachte mir
die Programme eurer Gemeinden, ihr Christen,
dann kommen mir Fragen, verzeiht:

Sind die Hungernden nicht mehr hungrig,
die Dürstenden nicht mehr durstig,
die Bedürftigen nicht mehr bedürftig?

Können die Blinden nun sehen,
die Stummen nun reden,
die Lahmen nun gehn?

Haben die Fragenden Antworten,
die Zweifelnden Gewissheit,
die Suchenden ihr Ziel gefunden?

Sind die Armen im Geist schon selig,
die Trauernden schon getröstet,
besitzen die Sanften schon das Land?

Wenn ich euch so zuhöre und betrachte mir
die Programme eurer Gemeinden, ihr Christen,
dann kommen mir Fragen, verzeiht!

Lothar Zenetti